Irgendwie kann man schon ahnen, wie sich die Reden am Tag der Deutschen Einheit anhören werden. Gerade nach den jüngsten Wahlergebnissen wird die Forderung im Raume stehen, man müsse mehr hören, was „die Menschen im Osten beschäftigt“, müsse ihre Lebensrealität verbessern und die weiterhin bestehende Ungleichheit zwischen Ost und West bekämpfen. So oder so ähnlich wird es klingen.
Aber trifft es überhaupt zu, dass die Gräben oder die Spaltungen dort zu finden sind, wo früher der eiserne Vorhang zwei deutsche Landesteile voneinander trennte? Bei genauerem Hinsehen spricht einiges dagegen: Zum Beispiel bei den Wahlergebnissen: Im Wahlkreis Potsdam I stimmten zusammen 60% für SPD, Grüne und Linke und 10,7% für die AFD. Dagegen erreichte die AFD im Wahlkreis Spree-Neiße II fast 42% der Stimmen, während SPD, Grüne und Linke auf gerade mal 29,6% kamen. Oder: In ganz Thüringen wählten 38% der Männer die AFD und 27% der Frauen. Auch die Unterschiede in den jeweiligen Alterskohorten sind gewaltig. Diese riesigen Differenzen wären aber nicht erklärbar, wenn es eine einigermaßen einheitliche Lebensrealität in den ostdeutschen Bundesländern gäbe.
Und richtig: Wie die Wahlergebnisse vermuten lassen, findet man in den ostdeutschen Bundesländern Menschen in sehr verschiedenen Lebenslagen: In urbanen Vierteln von Dresden, Leipzig oder Potsdam wird es ähnlich hip zugehen wie in schicken Stadtteilen z.B. von Stuttgart, Köln oder Hamburg. Und in allen genannten Städten gibt es Gegenden, in denen man nicht so gerne wohnt, weil dort die Infrastruktur nicht so gut funktioniert, weil dort viele Menschen in finanzieller Armut leben und das auch sichtbar ist. Und wie in den Großstädten gibt es in allen Regionen Landstriche, die eher gemieden oder verlassen werden – wo es keine Läden, keine Schulen, immer weniger Vereine und auch sonst wenig gibt.
Auch in anderen Fragen gehen die Risse ortsunabhängig durch unsere Gesellschaft: Wer als Kind einer armen Familie aufwächst, hat deutlich weniger Chancen auf einen guten Schulabschluss und einen aussichtsreichen Berufsstart – aufgrund der finanziellen Voraussetzungen der Herkunftsfamilie! Ähnliches gilt statistisch für Personen, die eine Migrationsgeschichte vorweisen können. Menschen mit einer Behinderung verzweifeln an nicht verständlichen Informationen auf Formularen oder Schildern sowie an Barrieren oder nicht vorhandenen oder nicht funktionierenden Aufzüge quer durch die Republik. Und in ganz Deutschland fühlen sich immer mehr Personen einsam und nicht zur Gesellschaft zugehörig.
Deshalb sollte am Tag der Deutschen Einheit nicht ständig gefragt und beantwortet werden, was die Menschen im Osten wohl bewegt, warum sie sich nicht gehört fühlen oder ständig benachteiligt werden, sondern es müssen Lösungen gesucht werden für ungerechtes Un-Einheitliches, das es noch zuhauf in unserem Land gibt. Meine These: Werden diese Ungerechtigkeiten angegangen, wird sich auch vieles von der Dauer-Gekränktheit und der Wut legen, die sich an manchen Stellen so reingefressen hat.
Dafür gibt es neben vielen anderen folgende Ansatzpunkte:
Chancengerechtigkeit herstellen: In Deutschland und hier besonders im Süden gilt nach wie vor, dass die ökonomische Situation der Herkunftsfamilie entscheidend ist für Schulerfolg und den weiteren Karriereweg. Das Versprechen, dass alle, die sich anstrengen, aufsteigen können, wird nicht gehalten. Das muss sich ändern: Bildungserfolg muss für alle möglich sein.
Verteilungsgerechtigkeit erreichen: Knapp fünf Prozent der Bevölkerung besitzen fast die Hälfte des Vermögens. Der Rest verteilt sich auf 95%. Anders als z.B. in der Schweiz wird Vermögen nicht besteuert. Dies führt zur Wahrnehmung, dass die Lasten vor allem von den sogenannten kleinen Leuten getragen werden. Deshalb muss für eine gerechtere Verteilung der Lasten gesorgt werden – z.B. durch eine Wieder-Einsetzung der Vermögenssteuer und einer gerechteren – höheren – Erbschaftssteuer.
Barrierefreiheit umsetzen: Menschen mit einer kognitiven oder körperlichen Beeinträchtigung werden nach wie vor von vielen wichtigen Lebensbereichen ausgeschlossen. Dabei geht es nicht nur um die berühmte Rampe, sondern auch um die Möglichkeit, selbständig wohnen, arbeiten oder Freizeit gestalten zu können. Es gibt viele Pläne und Ideen, damit Menschen mit einer Beeinträchtigung selbstverständlicher und selbstbewusster Teil der Gesellschaft sein können. Man muss sie nur umsetzen.
Stadt-Land-Gefälle einebnen: Noch immer bestehen in vielen Dörfern nur schlechte oder keine Anbindungen an den ÖPNV, es gibt wenig kulturelles Angebot und kaum Möglichkeiten, für den täglichen Bedarf einzukaufen. Darüber hinaus wird eine Kluft wahrgenommen zu „denen in der Stadt“, die sich mit weltfremden Fragen beschäftigen und die Landbevölkerung als rückständig belächeln. Hier braucht es mehr Begegnungen und sichtbare Verbesserungen in den ländlichen Regionen!
Einsamkeit überwinden: Die Beobachtung, dass sich immer mehr Menschen einsam fühlen, hat auch eine politische Dimension. Denn wenn Personen keinen Anschluss finden, haben sie auch nicht das Gefühl, ein Teil der Gesellschaft zu sein. Eine so fehlende Identifikation führt auch zu einer Entfremdung von demokratischen Prozessen. Einsamkeit zu überwinden kann aber nur in einer gemeinsamen Anstrengung von Politik, Zivilgesellschaft und einzelnen Personen gelingen.
Das sind fünf mögliche Handlungsfelder, es gibt aber noch mehr Bereiche, in denen die Lebensrealität der Menschen und das Gefühl verbessert werden können, dass es gerecht zugeht in unserem Land. Und wenn möglichst alle der Meinung sind, dass sie ein gutes Leben führen, egal woher sie kommen und welche Besonderheiten sie mitbringen, desto eher identifizieren sie sich mit unserem Land. Und dann kann aus einer sehr vielfältigen Gesellschaft so etwas wie eine Einheit entstehen.
Der Tag der Deutschen Einheit sollte uns Anlass sein, in diese Richtung zu denken und dann zu handeln. Und da ist weder das hauptsächliche Problem in einer Spaltung zwischen Ost und West zu finden noch sind die Lösungen auf regionale Bereiche zu begrenzen. Wir müssen die Probleme und Hürden in ganz Deutschland wegschaffen. Und zu einer Einheit in der Vielfalt werden.
Disclaimer: Dieser Text spiegelt meine eigene Meinung wider. Ich spreche hier nicht im Namen der einsmehr gGmbH, für die ich als Geschäftsführer arbeite. Ausführlicher beschreibe ich den Ansatz einer inklusiven Gesellschaft als Vision gegen eine gespaltene Gesellschaft in meinem Buch "Zusammen. Vielfalt. Leben!", das im Oekom-Verlag erschienen ist und im Buchhandel oder über den Autor direkt (PR@Jochen-Mack.de) bezogen werden kann.