Gesellschaftlicher Aufwind für die Inklusion?

Unsere Gesellschaft wird bunter und vielfältiger. Besonderheit ist kein Makel mehr, sondern wird meist positiv gewertet. Beflügelt diese Veränderung auch die Inklusion?

Gelingt Inklusion in der „Gesellschaft der Singularitäten“?

„Eine als singulär anerkannte Persönlichkeit zeichnet sich durch Originalität und Andersheit aus; sie ist auf ungewöhnliche und komplexe Weise „sie selbst“, das heißt, sie hat eine innere Dichte, die sie interessant macht. Zugleich scheint sie ganz anders als die anderen, so dass sie ein Element des Überraschenden enthält.“

Diese Beschreibung für ein Format eines Profils in einer Gesellschaft der Singularitäten aus dem gleichnamigen Buch von Andreas Reckwitz (S. 248) hat mich fasziniert. Macht diese von ihm beschriebene Entwicklung der spätmodernen Gesellschaft die Tür auf für Inklusion, in der Besonderheit eben wertgeschätzt wird als Bereicherung der Gesellschaft?

Dieser Frage will ich nachgehen, auch wenn das Vorhaben kühn erscheint. Ich bin kein Soziologe und musste mich durch das Buch an manchen Stellen durchkämpfen, zumal ich das meiste abends in kleinen Häppchen gelesen habe. Deshalb sind die Gedanken zu dem Buch an manchen Stellen evtl. etwas holzschnittartig.

Die Gesellschaft der Singularitäten
Andreas Reckwitz sieht in der Spätmoderne eine Gesellschaft, in der es vor allem in der bestimmenden Mittelschicht darauf ankommt, sich als ein besonderer Mensch zu inszenieren.  Dies steht im Gegensatz zu einer Logik einer vorhergehenden normierten Gesellschaft, in der fast alles in Massen produziert und konsumiert wurde und es darauf ankam, nicht aus dem Gefüge auszubrechen. Eine wichtige Triebfeder sind digitale Verbreitungswege, in denen es möglich (und auch gesellschaftlich honoriert) wird, sich als einzigartig – eben singulär – zu inszenieren.

Diese Dynamik der medialen Bewertung führt zu einem „The winner takes it all-Prinzip“: Wer es schafft, mit seiner Inszenierung Aufmerksamkeit zu erzeugen und sich attraktiv darzustellen, wird zum Beispiel von sozialen Netzwerken stärker und häufiger präsentiert, was zu weiterer Relevanz führt und die Besonderheit weiter betont.

In dem kulturell leitenden Milieu einer progressiven Mittelschicht ist ein liberales Denken zu verzeichnen: Die sexuelle Orientierung oder Herkunft spielt in der Bewertung von Personen keine Rolle mehr. Die Geschlechterrollen lösen sich (scheinbar) auf und ein patriarchalisches Verständnis wird massiv in Frage gestellt, sollte es sich zeigen.

Leitend ist die Vorstellung eines guten Lebens. Es ist wichtig zu zeigen, dass man sich fair verhält. Dies bezieht sich auf einen nachhaltigen Konsum, eine faire Art zu wohnen oder zu reisen und beinhaltet auch einen fairen Umgang mit anderen.

Ökonomisch sieht Reckwitz eine Spaltung der Mittelschicht: In einer postindustriellen und digital geprägten Gesellschaft ist kulturelles Kapital von größerer Bedeutung, weshalb die Kompetenzen einer akademisch geprägten Mittelschicht stärker nachgefragt werden. Diese profitiert also wirtschaftlich. Menschen mit niedrigeren oder ohne Bildungsabschlüsse und geringerem kulturellem Kapital sind dagegen am Arbeitsmarkt nicht mehr so gefragt, weshalb sich ihre Perspektiven verschlechtern. Es hat sich eine neue Unterschicht gebildet mit prekär Beschäftigten und schlecht bezahlten Arbeitskräften im Dienstleistungssektor. Der Soziologe diagnostiziert daher einen Paternoster-Effekt: Während es einer akademisch geprägten, kosmopolitisch orientierten Mittelschicht immer besser geht, verschlechtert sich die Lage für die sowieso schon benachteiligten Schichten (und auch Regionen), die sich zunehmend wirtschaftlich und kulturell „abgehängt“ fühlen. Daraus erwachsen Gegenströmungen, die politisch und kulturell ein „Zurück“ zu den früheren, übersichtlicheren Strukturen fordern.

Eine ausführlichere Beschreibung der Gesellschaft der Singularitäten findet sich hier:

Was bedeutet das für Inklusion?
Auf den ersten Blick könnte eine Gesellschaft der Singularitäten förderlich für eine inklusive Gesellschaft sein. Wie das Zitat zu Beginn zeigt, ist Besonderheit ein Leitmotiv und es spielt keine Rolle, woher jemand stammt und wie er oder sie aussieht. Im Gegenteil: Besonderheiten können sogar einen Reiz darstellen. Und so erfahren Menschen mit Beeinträchtigung viel mediale Aufmerksamkeit: In einer aktuellen Kampagne von Gucci Beauty präsentiert ein Model mit Down-Syndrom eine Wimpertusche und begründet dies mit einem Beitrag zu Diversität in unserer Gesellschaft. In einem Bericht der Süddeutschen wird von einem Comedian und einem Sänger einer Band im Rollstuhl sowie einer gehörlosen Tänzerin berichtet.

Auch in politischen Debatten kommen Stimmen zu Wort, die vorher nicht gehört worden wären. Raúl Krauthausen wird viel gefragt bei Themen rund um Inklusion und Bildung und zieht bei seinen Lesungen viel Publikum an (). Viel Aufsehen erregte Nathalie Dedreux, die in einer Wahlkampfarena Kanzlerin Merkel mit einer Frage zu pränataler Diagnostik in Bedrängnis brachte und die auf ihrer eigenen Webseite über ihre Vorstellungen und politischen Forderungen und ihr Leben mit Down-Syndrom schreibt. Im Stadtrat in Augsburg ist Benedikt Lika vertreten und vertritt die CSU in kulturellen Fragen und bei Inklusionsthemen.

Diese Beispiele mögen zu wenige sein (das findet auch Raúl Krauthausen in seinem Blog, sie zeigen aber auf, dass unter dem manchmal etwas überstrapazierten Begriff der Diversity auch auf die Stimmen von Menschen mit Beeinträchtigung gehört werden. Dass Diversität inzwischen unwidersprochen als relevant für Wirtschaft und Politik gilt und es in vielen Unternehmen eigene Beauftragte dafür gibt, stützt die These, dass Vielfalt von der dominierenden gehobenen Mittelschicht als anregend und bereichernd empfunden wird.

Ein weiterer positiver Effekt für Inklusion könnte darin liegen, dass es für die Mehrheit in der Gesellschaft von großer Bedeutung ist, so fair und gerecht wie möglich zu leben. Unter dem Stichwort „Gutes Leben“ verstehen viele ausdrücklich auch, sich für andere engagieren. Dazu gehört zum Beispiel, sich für Klimaschutz einzusetzen oder im Bioladen oder Weltladen einzukaufen. Auch dies ist eine Begründungslinie für das positive Verständnis von Diversität.

Aber: Wer profitiert wirklich?
Die Frage muss aber gestellt werden, ob diese positiven Veränderungen bei allen Menschen mit Beeinträchtigungen ankommen. Hier wäre meine Prognose eher sehr vorsichtig. Es ist zu befürchten, dass die beschriebenen Empfindungen eines „Abgehängt-werdens“ in sozial schlechter gestellten Milieus auch bei Menschen mit Beeinträchtigung vorherrschend sind. Wem es nämlich nicht gelingt, sich als besonders und auch ästhetisch ansprechend zu inszenieren, wird sich eher als Verlierer/-in der aktuellen Entwicklung fühlen. Das auch hier vorherrschende Prinzip „The winner takes it all“ führt nämlich dazu, dass viele andere zu Verlierer/-innen werden.  

Vor diesem Hintergrund wäre eine Erforschung der politischen Einstellungen von Menschen mit einer Beeinträchtigung zum Beispiel in Werkstätten sehr interessant. Es scheint sinnvoll, die These zu überprüfen, ob auch dort Reaktionen wie die Zuwendung zu einem klaren „Gut-Böse-Schema“, nationalistischem Gedankengut oder zu populistischen Parteien zu verzeichnen sind.

Fazit
Es gibt tatsächlich Elemente in einer Gesellschaft der Singularitäten, wie sie von Andreas Reckwitz beschrieben wird, die eine inklusive Gesellschaft vorantreiben können. Allerdings profitieren davon aktuell nur wenige. Denn eine wirklich inklusive Gestaltung braucht wirkliche Mitbestimmung und Mitwirkung aller und benötigt auch einen politischen Verteilungskampf und hat nichts mit einer ästhetischen Inszenierung zu tun. Die Tür ist also insgesamt einen Spalt auf. Jetzt muss sie aber vollends aufgemacht werden.

Quelle: Andreas Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten. Berlin 2017.

Disclaimer: Ich arbeite als Geschäftsführer der einsmehr gGmbH, die ein Inklusionshotel betreibt. Der Blogbeitrag spiegelt aber meine persönliche Meinung wider und ist nicht im Rahmen der Geschäftsführertätigkeit entstanden.
Da aus technischen Gründen die Kommentarfunktion entfernt werden musste, bitte ich um Rückmeldungen an PR@Jochen-Mack.de

Jochen Mack
Paul-Klee-Str. 26
86157 Augsburg