Neoliberalismus wirkt. Hart!

All den strammen Befürwortern eines schlanken Staats und eines starken Marktes, der alles regeln würde, sei eine Reise nach Chile empfohlen.

Dort trifft man zwar auf ein reiches, europäisch wirkendes und quirliges Land, aber schon ein kurzer Blick hinter die Fassade lässt einen Schlimmes befürchten für das längste und schmalste Land dieses Planeten

Denn die einzigartige Topographie ist nicht der einzige Superlativ von Chile. Es gilt zum Beispiel auch als das Paradebeispiel für neoliberale Reformen. Nirgends wurde so viel privatisiert, der Staat so geschwächt und die Wirtschaft so privilegiert wie hier. Bezeichnenderweise wurden diese Reformen wirkungsvoll wie nie von der Militärdiktatur unter Pinochet durchgepeitscht, der seinerseits den sozialistischen Präsidenten Allende aus dem Abend gedrängt hatte, der soziale Reformen erreichen wollte.

 

Folge 1: Rasante Deindustrialisierung

Aufgrund vieler Freihandelsabkommen wurde der chilenische Markt von ausländischen Produkten geradezu geflutet. Seien es Textilien und Schuhe aus Asien, Haushaltswaren aus China (z.B. von einer chinesischen Firma „Haus“ (!)) oder High-tec-Produkte aus Europa: Alle produzierten und verkauften billiger als die chilenischen Hersteller, so dass die dortige Produktion fast komplett zum Erliegen kam. Dies wurde noch dadurch verstärkt, dass Firmen aus dem Ausland hier nach wie vor keine Steuern zahlen, sondern lediglich sogenannte Royalties, also einkommensunabhängige Abgaben.

 

Folge 2: Schwache öffentliche Einrichtungen

Das eigentlich harmlos daherkommende Wort vom „schlanken Staat“ hatte in Chile massive Auswirkungen. Die Hilfen für Menschen mit Behinderungen wurden z.B. fast vollständig an eine halbstaatliche Organisation delegiert, die über Spendengalas Gelder von privater Seite einwirbt und damit Heime für Menschen mit Handicaps betreibt. Im staatlichen Haushalt sind dafür so gut wie keine Mittel vorgesehen.

Die kostenlosen öffentlichen Bildungseinrichtungen haben einen katastrophalen Ruf. Ein Abschluss dort berechtigt so gut wie nie zum Eintritt in eine universitäre Ausbildung. Private Schulen sind aber teuer. Zum Vergleich: Der staatlich geforderte Mindestlohn beläuft sich auf ca. 300 Euro, Schulgeld an einer Privatschule kostet aber schon um die 400 Euro pro Kind. Und auch ein Studium ist teuer, da auch die Unis meist privat organisiert sind.

 

Folge 3: Eliten bleiben unter sich

Auch deshalb ist die sogenannte Elite noch weit geschlossener und abgeriegelter als dies in Europa zu beobachten ist. Denn in den teuren Privatschulen bekommen die Mädchen und Jungen nicht nur eine weit bessere Bildung, sondern lernen auch gleich die „richtigen“ Leute kennen. Diese Netzwerke werden an den Hochschulen weitergepflegt und sind die wichtigste Grundlage für die Vergabe von lukrativen Stellen und Posten. Man kennt sich ja – und vor allem auch die reichen Eltern.

 

Folge 4: (Drohende) Altersarmut

Wie überall auf der Welt haben neoliberale Kräfte auch in Chile versucht, die Risiken des Lebens auf die Einzelnen zu übertragen. So wurde vom Umlagesystem auf eine private Altersvorsorge umgstellt. Und das mit großem „Erfolg“: Schon zur Zeit als es eine Wahlmöglichkeit gab, sind viele Chileninnen und Chilenen sind aus dem staatlichen System ausgestiegen um selber für das Alter vorzusorgen. Heute kann gar nicht mehr ins Umlagesystem eingestiegen werden. Jetzt, ca. 30 Jahre später kann das Ergebnis besichtigt werden: Viele Rentnerinnen und Rentner müssen arbeiten, weil sie von der kargen Rente nicht leben können. Oft kommen nach knapp 40 Berufsjahren gerade 200-300 Euro raus. Diejenigen, die in der staatlichen Versorgung aus der Umlage geblieben sind, bekommen das 2-3fache. Leicht auszurechnen, wer von solchen Reformen profitiert hat. Nicht umsonst fanden vor wenigen Wochen riesige Demonstrationen gegen das Rentensystem statt.

 

Folge 5: Extreme Ungleichheit

Fast schon logisch, dass Chile auch in anderen Ranglisten weit oben zu finden ist: Wird die Ungleichheit des Einkommens und des Vermögens betrachtet, landet Chile auf Platz 15 von über 140 Staaten - noch vor Brasilien. Ähnlich die Verteilung des Besitzes: Die reichsten zehn Prozent besitzen über 50% des gesamten Vermögens. Unter den OECD-Ländern ist Chile das Land mit der größen Ungleichheit in der Einkommens-Verteilung. Insgesamt gelten bei 18 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern mehrere Millionen Haushalte als verschuldet oder gar überschuldet.

 

Und wie weiter?

Angesichts dieser düsteren Statusberichte (die Liste könnte fortgesetzt werden) scheint der einzige Ausweg ein drastischer Schnitt mit dem Wirtschaftssystem zu sein. Doch ob dieser gelingen kann, scheint fraglich, da die politischen Eliten aus Gründen eng mit den wirtschaftlichen Eliten verflochten sind – und ob die Zivilgesellschaft die Macht hat, das Land zu einschneidenden Reformen zu bringen, steht in den Sternen. Es ist aber zu hoffen. Und es ist zu hoffen, dass die anderen Länder aus dieser „Bilanz“ aus über 30 Jahren neoliberaler Politik lernen und solche fatalen Weichenstellungen vermeiden.

 

Disclaimer

Der Artikel entstand nach einigen Gesprächen in Chile. Interessant waren vor allem die Einschätzungen von Karoline Mayer, die in Santiago ein Zentrum aufgebaut hat, das Menschen in Not unterstützt und ihnen eine Perspektive gibt. Informationen darüber gibt es hier auf deutsch (http://www.cristovive.de/) oder auf spanisch.

Jochen Mack
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