Pflegenotstand braucht Riesen-WUMMS

Seit Jahren versucht die Politik wirksame Maßnahmen gegen den Pflegenotstand zu entwickeln. Aber das Problem eher größer zu werden. Was ist zu tun?

Mit der Frage, was gegen den Pflegenotstand getan werden könnte, beschäftigte sich der erste Westhouse Talk im Oktober dieses Jahres. Prominente Gesprächspartnerin war Carolina Trautner, die bis vor kurzem Sozialministerin war und sich jetzt im Gesundheitsausschuss für das Thema Pflege engagiert. Die Teilnehmenden waren sich einig, dass der Pflegenotstand ein existentielles und bedrohliches Thema ist, das aber in der Politik und der Öffentlichkeit zu wenig gesehen wird.

Die Ausgangssituation ist tatsächlich schwierig: In und nach der Corona-Pandemie haben etliche Pflegekräfte ihren Dienst quittiert. Das hat die schon schwierige Situation weiter verschärft. In den nächsten Jahren werden aber aufgrund des demographischen Wandels mehr Menschen Pflege brauchen, denn unsere Gesellschaft wird immer älter. Und wir werden uns nicht mehr in dem Maße darauf verlassen können, dass die Pflege von älteren und behinderten Menschen wie bisher zu einem beachtlichen Teil von Angehörigen, vor allem Frauen übernommen wird.

Dies hat mit der stärkeren Berufsorientierung von Frauen zu tun, die es schwer oder unmöglich macht, einen Elternteil rund um die Uhr zu betreuen. Und dass ein (Groß-)Familienverbund eine solch große Aufgabe gemeinsam schultert, wird seltener, weil schlicht diese Konstellation immer seltener vorhanden ist. Auch die immer größer werdende Mobilität von Menschen macht eine häusliche Pflege schwieriger, da die Kinder von Senior:innen meist weit verstreut leben.

Die Lage also sehr ernst. Deshalb müssen aus Sicht von Carolina Trautner so viele Maßnahmen ergriffen werden wie möglich, um weiterhin eine befriedigende Qualität der Pflege zu ermöglichen. Neben einer besseren Bezahlung ist es aus ihrer Sicht notwendig, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Dazu sind verschiedene Maßnahmen denkbar, wie verlässliche Dienstpläne, Aufstiegsmöglichkeiten, eine Verschlankung der Bürokratie, unterstützende Angebote wie Supervision und Fortbildungen bis hin zur Hilfe bei der Wohnungssuche. Wichtig ist aber auch, die schönen Seiten des Pflegeberufs mehr zu thematisieren. „Eine Tätigkeit in der Pflege ist sinnerfüllend und die Pflegekräfte sind immer in Kontakt mit Menschen, von denen oft auch viel zurückkommt. Darüber muss mehr gesprochen werden, ohne die Probleme kleinreden zu wollen.“

Schwierige Rolle von Zeitarbeitsfirmen
Von anwesenden Pflegekräften wurde die Rolle von Zeitarbeitsfirmen angesprochen, deren Leistungen von Pflegeheimen oder Kliniken angenommen werden. Dort verdienen Pflegekräfte oft besser, haben aber weniger Verantwortung und können mehr Ansprüche stellen an die Gestaltung von Dienstplänen etc. Dies stifte enormen Unfrieden innerhalb von Belegschaften und sei den angestammten Pflegekräften nicht zu vermitteln. Hier müsse die Politik tätig werden, um Auswüchse zu verhindern. Diese Beschreibungen wird Frau Trautner an Gesundheitsminister weitergeben.

Frau Trautner sieht auch viel Potential in der Beobachtung von Modellen in anderen Ländern. So übernehmen in Schweden oder den Niederlanden gelernte Pfleger/-innen viele Erstbehandlungen und entlasten damit die Ärzte. Diese „Gemeindeschwestern“ haben viel Verantwortung, eine gute Bezahlung und ein großes Ansehen.

Damit sich aber etwas ändert, müssen alle dafür sorgen, dass mehr über die Pflege gesprochen und politisch diskutierte wird. Carolina Trautner: „Das Thema geht uns alle an. Wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass wir wirkungsvolle Maßnahmen ergreifen. Und das geht nur, wenn alle mitziehen.“

Mein persönliches Fazit
Der Notstand in der Pflege ist eine Bedrohung für uns alle. Denn auch Krankenhäuser können ihre Leistungen nur anbieten, wenn sie genügend Pflegekräfte haben. Dass Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen oder Seniorenheime teilweise oder ganz geschlossen werden müssen oder gar nicht eröffnen können, ist ein nicht hinzunehmender Skandal, der alle angeht. Deshalb muss die Politik hier massiver handeln als bisher. Und für dieses Thema muss ein viel stärkeres Bewusstsein geschaffen werden. Und die Gesellschaft muss sich fragen, warum es eigentlich so ist, dass jemand, der an der Produktion von Autos beteiligt ist, ein Vielfaches von dem verdient, was einer hervorragend ausgebildeten Pflegekraft zusteht. Da wäre also ein Riesen-WUMMS fällig.

Disclaimer
In der losen Reihe "Westhousetalks" disktuieren Expertinnen und Experten aktuelle Themen. Die Reihe wird organisiert von den Organisationen, die im Westhouse eingemietet sind - unter anderem dem Hotel einsmehr. Deshalb durfte ich als Geschäftsführer der einsmehr gGmbH das Gespräch moderieren.

Jochen Mack
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