Verena Böhme, die Vorsitzende des Vereins Manos Verdes berichtete über ihren Alltag in Argentinien, wo sie eine Nicht-Regierungsorganisation leitet, die sich in der Umweltbildung engagiert.
Hintergrund der Fragestellung ist das Symbol, mit dem sich der argentinische Präsident Javier Milei positionierte. Er kündigte im Wahlkampf an, „mit der Kettensäge“ staatliche Institutionen, staatliche Leistungen und Regulierungen zu bekämpfen. Damit wollte er das staatliche Defizit und die galoppierende Inflation bekämpfen. Und er wurde Vorbild für viele libertäre Bewegungen.
Jetzt nach einem Jahr sind die ersten Folgen zu besichtigen: Javier Milei setzte viele Ankündigungen um. Er strich meist per Dekret und ohne demokratische Mitbestimmungen viele Gesetze, löste Ministerien auf, entließ viele Beamte und senkte so massiv die Staatsausgaben. Es gelang, die Staatsausgaben zu reduzieren. Und die Inflation sank von ungeheuerlichen 220% (2024) auf ca. 35% pro Jahr (aktuelle Prognose für 2025).
Eine niedrigere Inflation hilft allen, die ihr Gehalt in der Landeswährung bekommen. Denn dieses wurde nicht so schnell an die Inflation angepasst. So stagnierten die Einkommen und die Lebenshaltungskosten explodierten. Die Senkung der Inflation stabilisiert die Situation und entlastet alle, vor allem diejenigen, die ihr Geld direkt in den Konsum geben (müssen).
Trotzdem häufen sich die Berichte, dass die sichtbare Armut deutlich zugenommen habe und viele Familien in existentieller Armut leben und zum Teil auf der Straße kampieren. Verena Böhme sieht eine ständig wachsende soziale Spaltung in Argentinien: Die Restaurants seien voll, den Vermögenden geht es sehr gut, aber die Armen kommen immer weniger aus ihrer Situation heraus.
Es ist davon auszugehen, dass Teile der Reformen auch berechtigt waren und es auch aufgrund von Vetternwirtschaft an manchen staatlichen Stellen Angestellte gab, die wenig bis nichts beigetragen haben, aber auf der Gehaltsliste von Kommunen oder Regierungen standen. Und es gab wohl in der Tat Regelungen, die viel verkompliziert haben, aber nichts zum Gelingen von wirtschaftlichen Prozessen beigetragen haben.
Viele Folgen erst langfristig sichtbar
Das radikale Vorgehen von Javier Milei wird mit großem Interesse verfolgt. Das Problem wird sein, dass viele Folgen erst mit großer Zeitverzögerung zu beobachten sein werden. Wenn z.B. massiv in der Gesundheitsversorgung oder in der öffentlich zugänglichen Bildung gespart wird, bringt das aktuell Einspareffekte wird aber das Land dauerhaft schwächen. Gleiches gilt für Klimaschutz. Auch hier wurden viele Anstrengungen eingestellt (z.B. auch die Delegation während der laufenden COP-Konferenz in Baku abberufen). Die Folgen davon werden sich erst später zeigen.
Viele Ökonominnen und Ökonomen hoffen auf einen Trickle-Down-Effekt: Finden Firmen bessere Bedingungen vor, machen sie bessere Geschäfte, wodurch sie mehr Menschen anstellen können, was zu einer Verbreiterung des Wohlstands führt. Aber auch das ist ein Versprechen, von dem nicht klar ist, ob es eingelöst wird. Und diese Hoffnung beinhaltet aber unausgesprochen auch die Wahrheit, dass die Unternehmen massive Gewinne einstreichen. Da zum Beispiel auch der Einfluss von Sozialgesetzgebung und Arbeitsschutz diskutiert wird, kann es passieren, dass zeitgleich die Löhne der Beschäftigten nicht wachsen, also die Einkommen in der Mittel- und Unterschicht nicht wachsen. Würde es so kommen, würde die Ungleichheit eher größer werden.
So könnte es weitergehen
Deshalb ist meine Prognose nach der Diskussion eher skeptisch: Es werden viele bisher staatliche Leistungen gekappt oder privatisiert werden (z.B. auch Bildung, Versorgung in sozialen Einrichtungen), was diejenigen, die schon viel haben, leichter verschmerzen können. Deshalb haben diejenigen, die über wenig Ressourcen verfügen, das Nachsehen und werden es schwerer haben, aus einer schwierigen Situation zu kommen, während Wohlhabende von niedrigeren Steuern und weniger Bürokratie profitieren. Die Spaltung wird sich also verschärfen.
Dass sich ein öffentlicher Sektor wie z.B. die staatliche Gesundheitsvorsorge nach massiven Einsparungen nur sehr langsam erholt, ist in England zu beobachten. Dort wurden unter Maggie Thatcher die Ausgaben massiv gekürzt, woran viele Menschen heute noch leiden (im wahrsten Sinne des Wortes).
Argentinien galt um 1900 als eines der reichsten Länder der Erde. Dass es jemals wieder in eine solche Richtung geht, scheint mir unwahrscheinlich. Es wird spannend, die weiteren Entwicklungen zu beobachten.
Disclaimer
Der Beitrag spiegelt meine persönliche Wahrnehmung wider. Die Gedanken sind entstanden anlässlich der Veranstaltung “Westhousetalk”, die am 21.05.25 im Westhouse Augsburg im Hotel einsmehr stattfand.